Perspektiven

 

 

 

 

»Sie reden sich um Kopf und Kragen. Keine Ahnung, aber urteilen! – Einordnen, Zuordnen, das scheint das Wichtigste. Und dabei das Wesentliche übersehen. Gott sei Dank gibt es Ausnahmen.«

 

 

 

 

»Das mit der Harmonie ist so einen Sache. Ich spiele mit. Meine Mutter meint es ja nicht böse, aber es nervt. Diese Erwartungshaltung! Und seit Neuestem lässt mein Verlobter Sprüche los, die mir die Schuhe ausziehen, seit er arbeitslos ist.«

 

 

 

 

»Frage mich manchmal, ob das so weitergehen kann. Ich versuche alles, den Ansprüchen zu genügen. Haut aber nicht hin. Ich merke selber, ich werde grundaggressiv. Liebt mich meine Freundin überhaupt noch?«

 

 

 

 

»Es ändert sich nie was. Die Menschheit lernt einfach nichts dazu. Ich habs so satt. Abtauchen. Sich nicht einmischen. Damit komme ich durch. Meistens jedenfalls.«

 

 

 

 

»Immer Stress. Wieder zu spät. Ich versuche alles. Die Familie muss zusammenbleiben. Harmonie ist so wichtig.«

 

 

 

 

»Der arme Kerl. Hat niemanden. Und hat mir sein Geheimnis anvertraut. Ich musste was unternehmen. Meine Freundinnen waren gleich mit dabei. Das Weihnachtskonzert wird festlich. Anders vielleicht, als sich Pelzträgerinnen das vorstellen.«

 

 

 

»Sie hat sich um mich gekümmert, hat sich für mich interessiert. Keiner außer ihr hat mich was gefragt. Ein Herz und eine Seele. Müssen Menschen ein bestimmtes Alter erreichen, um über den eigenen Tellerrand hinausschauen zu können?«

Interviews


July Zuma, Tenor und Titeldarsteller in Der Besucher, im Gespräch mit Jón Philipp v. Linden

JPvL: Darf ich dich bitten, dich selbst kurz vorzustellen?

JZ: Klar, gern! Mein Name ist July Zuma. Ich bin geboren und aufgewachsen in Südafrika in einem Township namens KwaMashu, in der Nähe von Durban in der Provinz KwaZulu-Natal. Ich bin lyrischer Mozart-Tenor und ich habe in der Opernschule der Universität von Kapstadt studiert. Mein postgraduales Studium habe ich am Conservatori Superior de Música del Liceu in Barcelona in Spanien 2012 abgeschlossen. 2013 bin ich nach Berlin gegangen und habe versucht, freischaffend zu arbeiten, was ich seitdem tue.

Welche waren die wichtigsten Stationen deiner Karriere? Die lyrischen Tenor-Rollen, von denen du sprachst?

Wie ich sagte, geht’s mir am besten mit Mozart: Don Ottavio zum Beispiel; Ferrando in Così fan tutte mag ich genauso gern, es ist eine meiner Lieblingsrollen im Mozart-Repertoire. Ich habe auch Belmonte vorbereitet, aber die Produktion hätte in der Corona-Zeit gelegen und wurde abgesagt. Ich hoffe, sie wird wiederaufgenommen. Davor musste ich meine Stimme etwas „finden“ und habe zunächst Spieltenor-Rollen übernommen, Pedrillo zum Beispiel. Es war spannend, den Sprung zu den ernsthaften, lyrischen Tenorrollen zu verfolgen.

Erinnerst du dich, wann und wo du Robert (Lehmeier) das erste Mal getroffen hast und wie es zu eurer Zusammenarbeit gekommen ist?

Das erste Mal, dass ich Robert getroffen habe, war in Deutschland und geschah durch Shirley Apthorp. Sie ist Journalistin, schreibt Kritiken für die Oper und hat ihre eigenen Verbindungen nach Südafrika etabliert, in Gestalt eines Festivals etwa. Robert war Mitglied des Teams und es war mein erstes Engagement mit Robert. Dann fragte man mich, ob ich bei The Fairy Queen mitspielen wollte, was Robert ebenfalls inszeniert hat. Das war in Südafrika, in Kapstadt. Es war eine ähnliche Art von Produktion wie die erste, die auch Schulkinder involvierte und auf sie ausgerichtet war. Das Thema war „Changing Lifes to Music“, daher war es besonders jüngeren Leuten gewidmet.
Bei der darauffolgenden Produktion, die wir mit ihm gemacht haben, habe ich nicht gesungen, sondern war im Team des Umcolo Festivals. Ich habe dort auch Cathy Milliken kennengelernt, die ja die Vertonung von Der Besucher unserer beiden wunderbaren Komponisten betreut hat. Es war Comfort Ye, eine Art Barock-Pasticcio. Es war Händel-Musik, gemischt mit neukomponierter Musik, die Cathy geschrieben hatte. Es brachte die beiden Welten zusammen, das Thema war „Tröste dich“ und die Geschichte wurde ebenfalls von Robert inszeniert. Später arbeitete ich beim Umcolo-Festival nochmals mit Robert zusammen, dieses Mal am Theater in Johannesburg-Hillbrow. Das war Romeo’s Passion, für das Robert erstmals auch das Libretto geschrieben hat.

Was sind die musikalischen Herausforderungen für dich bei Der Besucher?

Ich bin mit meiner Rolle ganz glücklich, denn für gewöhnlich ist es schwierig, mit Neuer Musik umzugehen, wie wir wissen. Unterschiedliche Taktarten, ungewöhnliche Melodieführung; manchmal ist es für mich schwierig, gegen etwas anzusingen, was mein Ohr anders hören möchte. Ich bewundere meine Kolleg*innen, die die Familienmitglieder spielen und sehr komplexe Gesangspassagen haben. Meine Rolle ist viel lyrischer, der Text ist sehr schön und die Musik ist in einem romantischen Modus verfasst. Es ist ein so großer Kontrast, dass man glauben könnte, diese Musik stamme nicht aus derselben Oper. Das andere Gute an diesem Stück: Die Komponisten sind noch am Leben und man kann Dinge noch verändern (lacht).

Welche Herausforderung ist es denn, diese Rolle zu spielen?

Robert hat eine faszinierende Art zu inszenieren. Ich würde sagen, er steht nicht so sehr auf klassische Trennung zwischen Agierenden und Zuschauenden, sondern gestaltet alles sehr intim. Die größte Herausforderung ist, zu singen und Gefühle auszuspielen, während das Publikum direkt neben dir sitzt. In meiner Rolle singe ich erst ganz am Schluss, daher muss ich fünfzig Minuten lang überbrücken. Normalerweise singst du dich ein und gehst auf die Bühne, um zu singen. Du wärmst dich auch beim Singen auf der Bühne auf. Hier ist es herausfordernd, weil ich nicht weiß, was herauskommt, wenn ich fünfzig Minuten lang geschwiegen haben und dann den Mund aufmache. Es gibt keine Möglichkeit, das zu testen, während die Oper läuft. Auch mit den anderen zu spielen, ohne etwas sagen zu können, ist schwierig. Zu interagieren und zu kommentieren, ohne kommentieren zu dürfen; nur mit Mimik und Gestik zu arbeiten …

... besonders, weil jeder etwas von dir will, richtig?

Genau! (lacht)

Was denkst du darüber, das Thema Rassismus auf der Bühne zu verhandeln? Ganz allgemein gesprochen?

Also ich denke, jedes Thema sollte behandelt und angesprochen werden. Und welchen besseren Ort als ein Theater könnte es geben, um diese Dinge zu benennen? Theater ist … wie soll ich das sagen – es ist ein offener Raum, in dem man nicht beurteilen muss, wie etwas zu sein hat. Du hast die Chance, zu sagen: „Hier ist etwas, wie siehst du das eigentlich ganz persönlich?“ Und das schafft dann einen Raum für Diskussionen.
Ich denke, es ist nicht der richtige Weg, Themen auszuklammern, nur weil wir uns damit unwohl fühlen. Meiner Meinung nach ist es besser, sie anzusprechen und dann zu sehen, wohin es uns führt. Wir können uns darauf einigen, dass es dazu keine Einigung gibt, das ist dann auch okay. Das muss man mit Respekt machen.
Diese Themen sind einfach wichtig, auch für unsere Gesellschaft. Wir leben heute in einer Welt von Diversität. Nicht wie vor acht Jahren, als es für jemanden aus Afrika, so wie mich zum Beispiel, nicht einfach war, auf einer europäischen Bühne zu singen – das ist ja heute viel offener. Wir müssen uns mit unseren Unterschiedlichkeiten auseinandersetzen; wir können nicht davon ausgehen, dass wir alle gleich sind. Es ist so wichtig, ein Verständnis für die andere Person aufzubringen, kulturell gesehen, vom Verhalten her und überhaupt. Und ich denke, gerade das Theater ist ein sicherer Ort, um diese Themen ansprechen zu können.

Um ein bisschen nach vorn zu blicken auf die nächste Zusammenarbeit mit Robert bei At your doorstep/Vor deiner Tür nächste Spielzeit: Dort bist du nicht nur als Sänger, sondern auch als Organisator beschäftigt. Wie kam es dazu?

Glücklicherweise ist das eine Situation, in der ich schon früher mal war. Nachdem ich mein Studium in Kapstadt beendet hatte, mich aber stimmlich noch nicht bereit fühlte, in die Welt hinaus und auf die Bühne zu gehen, aber Arbeit brauchte, hatte ich das Glück, dass mein Professor, der der Leiter der Opernschule an der Universität war, zugleich auch der Intendant der Oper in Kapstadt war. Einer der Betriebsdirektoren der Oper ging in Rente und sie boten mir seinen Job an. Ich dachte, wenn ich jetzt diesen Bürojob annehme, dann geht meine Karriere als Sänger flöten (lacht). Ich sprach mit ihm und er gab mir den Rat: Guck einfach, was passiert, denn dies ist ein guter Ort, um Menschen zu treffen! Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.
Von da an habe ich eine Menge auch internationaler Sänger*innen getroffen. Meine Verantwortlichkeit lag in der Betreuung der lokalen Sänger*innen wie auch der internationalen; ich war deren Kontaktperson. Beispielsweise waren wir mit Porgy and Bess auf einer internationalen Tournee mit achtzig Leuten und ich habe mich um alle gekümmert. In dieser Position war ich dreieinhalb Jahre tätig, also weiß ich, wie der Theaterapparat hinter der Bühne funktioniert. Das verursacht manchmal etwas Wirrwarr in meinem Kopf, wenn ich zum Beispiel versuche, meine Bedürfnisse als Sänger zu verhandeln und gleichzeitig zu wissen, wie die Dinge wirklich stehen. Wenn der Theatermanager in mir sagt: Es gibt kein Geld!, weil er das Budget kennt, fragt der Sänger: Wie, es gibt kein Geld? (lacht). Auch, als ich schon in Deutschland war, wurde ich angefragt, in den Niederlanden eine Tournee der Oper Kapstadt mit African Angels sechs Wochen lang zu betreuen. So kam es, dass ich sowohl Sänger als auch Manager bin.

Danke Dir herzlich!


(Übersetzung: Jón Philipp v. Linden, Alina Meinold, Nora von Linden)


Zitat

»Nur Liebende sind wahre Menschen. Wer aber nicht liebt, an dem ist nichts Gutes.«
Abu al-Fadl Abbas Ibn al-Ahnaf (750-809)

Bildergalerie

Entstehungsgeschichte

First Contact – Faszination Musiktheater

Neue Wege
November 2018: Die Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, Isabel Pfeiffer-Poensgen, kontaktierte alle kommunalen Theater ihres Bundeslandes und stellte ihnen eine »Profilförderung« in Aussicht, wenn sie bereit wären, »Neue Wege« zu gehen. Im Detail: Wir Theaterleute in NRW wurden aufgefordert, kreative Ideen für besondere Projekte zu entwickeln, die im herkömmlichen Theaterbetrieb keine Chance hätten, umgesetzt zu werden. Jedes Theater, das eine oder mehrere solcher Projektideen dem Ministerium und dem NRW Kultursekretariat vorstellte und erklärte, warum diese(s) Projekt(e) besonders wichtig, aktuell, schön, originell und außergewöhnlich sei(en), sollte für dessen/deren Verwirklichung eine ordentliche Stange Geld als Unterstützung erhalten. Und das Tolle daran: Diese Unterstützung würde nicht nur für die Dauer einer Spielzeit, also eines Jahres, gezahlt werden, sondern das vorgestellte Projekt könne quasi als Serie über drei Jahre hinweg ausprobiert – und dabei natürlich stetig verbessert werden. Das Theater Bielefeld bewarb sich mit gleich vier Projektideen – und alle vier fanden die Zustimmung der Jury und werden seitdem umgesetzt!

Kurz und aufregend!
Ein altes und sehr abgenutztes Gerücht sagt ja, dass Oper eigentlich viel zu abgefahren ist, um junge Leute wirklich zu erreichen oder gar zu interessieren. Klassik geht eigentlich schon mal gar nicht, der Gesang zieht einem die Schuhe aus und wenn dabei auch noch »schräge« neue Musik im Spiel ist, dann ist Schluss mit lustig. Aber sowas von – !
Mag sein. Aber wer es nicht ausprobiert, kann es nicht wissen und wird nie erfahren, wie großartig Musiktheater sein kann. Daher: Finde den Fehler! Und damit meinten wir in erster Linie uns selbst. Warum also nicht mal eine Oper machen, die von jungen Menschen (mit-)geschrieben und komponiert wird? Die ein Thema hat, das junge Menschen interessiert? Die so aufgeführt wird, dass man ganz nah dran, sogar fast mittendrin sein kann? Eintauchen in eine Kunstwelt, in der digital und analog ineinandergreifen. In der man hautnah miterlebt, wie und warum Musik entsteht. Gesungen, gezupft, gestrichen, geschlagen oder gesampelt. Am liebsten alles gleichzeitig. Dazu ein Gegenüber von Bühnenbildinstallation und Projektion, von Licht und Dunkel. Und nicht gleich so lang, das Ganze. Schon deshalb, weil es ja auch seine Zeit braucht, so etwas überhaupt zu entwerfen.
Also haben wir folgenden Plan gefasst: Jede Spielzeit planen wir eine neue, aktuelle, thematisch relevante Kammeroper, die von mehreren Kompositionsstudierenden komponiert wird. Die werden wiederum betreut von eine*r etablierten Komponist*in. Wenn sie fertig ist, wird sie unter professionellen Bedingungen inszeniert und von Musiker*innen der Bielefelder Philharmoniker gespielt. Die hierfür gedachte und geeignete Bühne findet sich im neu gestalteten Foyer der Rudolf-Oetker-Halle.

Muth
Damit Jugendliche nicht nur das Ergebnis kennenlernen, sondern auch bei der Entstehung von vorn bis hinten dabei sein können, haben wir den Musiktheaterjugendclub Muth gegründet. Seine Mitglieder treffen sich alle zwei Wochen, besuchen, wenn möglich, Proben und Vorstellungen anderer Produktionen und nehmen an Workshops mit den Opernschaffenden teil. Wenn alles gut läuft, kommt es dabei zu einem kreativen Austausch.
Habt Ihr schon mal an einem Libretto mitgeschrieben? Überlegt, was ein Bühnenbild alles können sollte? Wie setzt man beim Komponieren reale Instrumente ein und welche elektronischen Mittel wären geeignet, die Musik zu bereichern? Was kann die menschliche Stimme für Töne zaubern? Welche digitalen Elemente wären geeignet, die Bühnenhandlung in eine Kunstwelt zu übertragen? Welche künstlerischen Gedanken spielen mit, wenn Kostüme für die Figuren entworfen werden? Wie funktioniert Theaterbeleuchtung und wie wird sie gestaltet? Wofür ist die Requisite (nicht) zuständig? Und was macht eigentlich ein*e Dramaturg*in?

 


Köln, Hauptbahnhof, im Oktober 2019. Soeben haben wir uns mit drei Kompositionsstudierenden getroffen, die unsere Kammeroper All Days for Future komponieren werden. Der Klimawandel war in den Nachrichten ähnlich präsent wie es heute der Krieg in der Ukraine ist – und statt des Präsidenten des überfallenen Landes war das seinerzeit junge Mädchen aus Schweden nahezu in jeder Nachrichtensendung zu sehen und zu hören. »Lass uns doch gleich mal über das nächste Jahr sprechen«, sagt Robert Lehmeier zu mir. Ich bestelle mir einen Kaffee.

Ende April 2022. Gerade von der Generalprobe zurück. Der Park neben der Rudolf-Oetker-Halle blüht im schönsten Frühlingsmodus; drinnen im Foyer gespannte Atmosphäre. Die Weihnachtsbäume strahlen ganz unwirklich, doch als das Theaterlicht angeht, entfalten sie die beabsichtigte Atmosphäre »Stop«, ruft Dirigentin Anne Hinrichsen, »nochmal ab Ziffer 28!« Die Theatermaschine schnurrt, alle Beteiligten kennen das Timing ihrer Auftritte und Umzüge; letzte Kleinigkeiten werden korrigiert. Einige Kolleg*innen aus dem Theater schauen sich die Probe an. Sebastian und Andrei sind angereist, die beiden Komponisten. Ebenso Cathy Milliken. Die Fotografin sucht sich die besten Perspektiven und knipst ununterbrochen, ich feile noch ein wenig an der Übertitel-Einblendung.

Januar 2020. Wir gründen den Musiktheater-Jugendclub und führen erste Treffen durch. Die Clubmitglieder kreieren dafür alsbald den Namen Muth und lernen bei einer Führung das Stadttheater kennen. Robert Lehmeier führt einen ersten Workshop zu Geschichte und Wirkung der Oper anhand einzelner Inszenierungen durch. Bald folgen weitere Workshops. Muth-Mitglied Malin Kissing erinnert sich: »Da hatten wir uns zusammengesetzt mit ihm (R. Lehmeier) und vier oder fünf Jugendlichen aus unserer Gruppe und sind ins Gespräch gekommen. Es ging erst mal um das Thema Fremdsein an sich. Wir haben darüber gesprochen, in welchen Situationen wir uns ganz konkret manchmal fremd fühlen oder wo es uns im Alltag schon mal begegnet ist, dass wir uns selbst oder andere sich in der Gesellschaft wie ein Fremdkörper fühlen. Dann kamen wir verallgemeinernd darauf, wie das in Deutschland ist. Wie es passieren kann, dass Leute nur als Fremde, als Besucher aufgenommen werden und sind, naheliegend, beim Thema Fremdenhass gelandet …«

März/April 2022. Der Besucher ist im Portfolio der Bielefelder Aktionswochen gegen Rassismus aufgeführt. Seit rund vier Jahren nehmen wir im Theater in unterschiedlichen Besetzungen an Workshops teil, die sich u. a. um rassismuskritisches Denken drehen. Wir sprechen über die Rolle von Theater im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs um Diversitätssensibilität, beschäftigen uns mit Triggerwarnungen, planen Einführungen und Publikumsgespräche und unterhalten uns aktuell mit den Kolleg*innen vom Kommunalen Integrationszentrum, die die Aktionswochen gegen Rassismus regelmäßig in Bielefeld veranstalten. Inga Hummel hatte die Leitung von Muth und die Projektassistenz für die Kammeroper-Serie übernommen, nun kehrt Alina Meinold aus der Elternzeit zurück und löst sie ab. Der Jugendclub führt einen Workshop mit Marie-Louise Otto durch, die anhand von Der Besucher die konzeptionelle, künstlerische und praktische Arbeit einer Kostüm- und Bühnenbildnerin vermittelt.

März 2020. Die in Deutschland eingetroffene Corona-Pandemie führt zu Theaterschließungen und zum ersten Lockdown. Der noch ganz junge Jugendclub Muth stellt sich auf einen Zoom-Betrieb um. Die gesamte Produktion All Days for Future wird um ein Jahr in den Frühling 2021 verschoben … Für Der Besucher hat Robert Lehmeier als Resultat der Beschäftigung mit All Days for Future den Plan gefasst, das Foyer der Rudolf-Oetker-Halle nicht nur zur Bühne, sondern auch zum Spielort zu machen. Frei nach dem Motto: Theater entsteht dort, wo man es behauptet.

März 2022. Vorübergehende Ausfälle infolge von Covid-19-Erkrankungen sind im Theaterbetrieb mittlerweile an der Tagesordnung; regelmäßige Testungen sorgen für Sicherheit im Ensemble wie im Haus, allerdings legen quarantänebedingte-Abwesenheiten zuweilen ganze Theaterproduktionen lahm. Erst kurz vor Probenbeginn von Der Besucher gelingt es daher, das Ensemble und das Regieteam zu komplettieren. Schon vorher haben die Damen des Extrachors, verstärkt durch drei Gesangsstudierende der Hochschule für Musik Detmold, in Rekordzeit ihren anspruchsvollen Part mit Hagen Enke einstudiert. Tonmeister Tobias Heß und Dirigentin Anne Hinrichsen nehmen Mitte März diejenigen Teile daraus auf, die später eingespielt werden, etwa als „Stimmen von oben“ oder „Chor der Vögel“. Teils per Zoom, teils in Präsenz führen wir eine Woche später das Konzeptionsgespräch durch, das allen Beteiligten anhand von Bühnenbildmodell, Kostümfigurinen und Erläuterungen zu einer konkreten Vision verhilft, wie die Inszenierung aussehen wird.

Januar 2021. Theater im Ausnahmezustand. Seit zwei Monaten ruht der Spiel- und Probenbetrieb, Homeoffice wird großgeschrieben und das Wort Nähe wird – gefühlt – zum „Unwort des Jahres“. Robert Lehmeier hat das Libretto zu Der Besucher fristgerecht abgeliefert, die Ausschreibung für die Komposition geht an eine ganze Reihe von Musikhochschulen in Europa. Zugleich zeichnet sich ab, dass All Days for Future keine Chance haben wird, in der gedachten theatralen Form im Mai und Juni des Jahres vor präsentem Publikum aufgeführt zu werden. Wir berufen alle mit der Vorbereitung beschäftigten Kolleg*innen per Zoom zusammen und fassen den Entschluss, aus der Not eine Tugend und aus der Theaterinszenierung einen Theaterfilm zu machen. Rasch werden Probenpläne auf den Kopf gestellt, Aufnahmesessions anberaumt, Endproben in Drehtage verwandelt, ein Storyboard geschrieben und weitere Maßnahmen getroffen, um dies zu ermöglichen.

Oktober 2021: Die beiden Komponisten für Der Besucher, Andrei Petrache und Sebastian Molina Villarroel, reisen erstmals an, um das Theater und seine Menschen in Bielefeld kennenzulernen, mit den fürs Stück vorgesehenen Sänger*innen musikalisch vertraut zu werden, den Spielort in der Rudolf-Oetker-Halle zu begehen, dem Extrachor zuzuhören und vieles weitere zu besprechen. Cathy Milliken, Robert Lehmeier und July Zuma sind ebenfalls zugegen, eine Gesprächsrunde mit der Abteilung JungPlusX, dem Chordirektor und der Agentin für Diversität fördert viele Fragen zutage, die eine Uraufführung unweigerlich mit sich bringt, insbesondere, wenn sie aktuelle Themen zum Inhalt hat.

Juni 2021: Das Theater Bielefeld hat seine gesamte Vorstellungspalette auf Streaming-Betrieb umgestellt und dafür einen Abendspielplan erstellt, der überraschend gut angenommen wird. Die Jury zur Kompositionsausschreibung tritt per Zoom zusammen und wählt unter den rund 12 eingesendeten Test-Partituren die zwei aus, die sich hinsichtlich der Anforderungen von Der Besucher am vielversprechendsten lesen und anfühlen: Es sind diejenigen von Sebastian Molina Villarroel und Andrei Petrache.

August 2021: Die neue Spielzeit startet unter dem Motto „Hemmungslose Freundlichkeit“. Diesen Appell richteten unsere Schauspieler*innen nach den Anschlägen von Hanau im Februar 2020 regelmäßig bei Vorstellungsende ans Publikum und wir hätten nicht gedacht, dass die Botschaft dieses Mottos uns in seiner Relevanz und Aktualität wieder einmal überholen würde. Nicht zuletzt verhandelt Der Besucher, warum es im privaten Alltag so wichtig ist, während im weltpolitischen Rahmen ab Ende Februar 2022 die Sehnsucht nach hemmungsloser Freundlichkeit zur Utopie gerinnt …

Jón Philipp von Linden


Hauptfoyer im Stadttheater, es ist ein etwas trüber Nachmittag Mitte April 2022. In der Sitzgruppe an der getäfelten Wand haben Cathy Milliken und Sebastian Molina Villarroel Platz genommen, Letzterer mit erwartungsvollem Blick und einem sympathischen, etwas scheuen Lächeln. Ich stelle das Aufnahmegerät auf den Tisch und frage Sebastian, was ihn an unserer Ausschreibung zur Komposition eines Teils von Der Besucher gereizt hat:

»Ich glaube, als junger Komponist, wie ich es bin, sucht man immer nach unterschiedlichen Projekten. Man wählt unter vielen Angeboten aus, was interessant für einen selbst ist. Was mich motiviert hat, war, dass ich noch nicht so richtig Musiktheater gemacht hatte, und ich wollte das probieren. Außerdem fand ich interessant, dass zwei Komponisten ausgewählt wurden. Erstens war ich gespannt auf die Zusammenarbeit zwischen uns beiden und zweitens auf das, was jeder eigentlich macht, in welchem eigenen Stil, um das dann zu verbinden.«

Zwei Tage später vor, nein: hinter der Rudolf-Oetker-Halle. Die erste Bühnen-Orchesterprobe für Der Besucher ist gerade zuendegegangen. Dirigentin Anne Hinrichsen hat ihre Partitur auf der nächstgelegenen Parkbank ausgebreitet und stimmt sich mit Andrei Petrache über einige Details ab, dem Komponisten des zweiten Teils. Als sie fertig sind, bitte ich ihn zu einem kurzen Interview und wir suchen uns ein windstilles Plätzchen an der Rückwand des denkmalgeschützten Konzerthauses. Ähnliche Frage wie bei Sebastian: »Your first thoughts about our project as you just have read or heard of it?« – »It was a big challenge … Es war eine große Herausforderung und zugleich eine Riesenchance, weißt du«, antwortet er. »Tatsächlich war es meine erste internationale Zusammenarbeit an einer großen Oper mit so vielen Beteiligten und einem wundervollen Team. Es ist eine große Ehre für mich, aber auch eine Herausforderung angesichts der vielen Themen, die das Libretto beinhaltet.« Andrei lebt in Bukarest und hat dort zunächst zwölf Jahre lang Klavier studiert, außerdem im Nebenfach Gitarre, Flöte, Kontrabass und Schlagzeug. Derzeit macht er seinen Master in Komposition und rundet seine musikalische Ausbildung mit einem Dirigierstudium ab. Längst ist Andrei in seiner rumänischen Heimat ein gefragter Pianist, und zwar sowohl im Klassischen Bereich als Solist oder in Kammermusik-Ensembles als auch in verschiedenen Jazzcombos, wo er sich genauso zuhause fühlt wie in Weltmusik-Bands.

Sein Kollege Sebastian studierte Cello und Komposition in seiner Heimat Chile, bevor er 2019 nach Leipzig kam und seitdem bei Claus-Steffen Mahnkopf ebenfalls Komposition im Master studiert. Er hat früh angefangen, Meisterkurse zu besuchen, etwa bei Mauricio de Bonis und Flo Menesez in Brasilien, bei Gonzalo Biffarella in Argentinien und Bernard Cavanna in Frankreich, um nur einige zu nennen. 2014 gewann Sebastian mit seinem Werk El sonido de una noche… (der Klang einer Nacht …) einen Wettbewerb, dessen Preis eine Aufführung mit dem chilenischen symphonischen Orchester war. Weitere Preise folgten, er schrieb für Kammerensemble, für großes und kleines sowie für Barockorchester. 2021 gewann er den Förderpreis der Leipzigstiftung, mit dem er Estudio N° 3, palabras acuáticas komponierte, ein Stück für Horn, Kontrabass und Klavier, das im Oktober 2021 im Rahmen des Konzertes Next Generation 5 vom Ensemble Contemporary Insights uraufgeführt wurde.

»Es sind zwei junge Komponisten, die einen recht erkennbaren und sehr sicheren Stil zu komponieren haben«, resümiert Cathy Milliken, die selbst reichhaltige Erfahrung als Komponistin und Musikerin mitbringt. lch frage Sebastian, ob der ziemlich kurze Zeitraum, der ihm zum Komponieren blieb, ihn eher gestresst oder motiviert habe, weil mancher unter Druck ja besser arbeiten können. »In meinem Fall war es nicht so einfach, weil ich ziemlich viel überlegt habe«, sagt er. »Ich habe versucht, das Libretto zu interpretieren, in meinem Sinne, und eine musikalische Idee herauszufinden. Das hat gedauert. Und dann beim Schreiben ist es eine andere Sache. Man versucht, alles vorher zu organisieren, aber dann kommen ganz neue Fragen auf: Was kann ich hier machen? Braucht diese Szene eine andere Lösung? Und in der Oper ist die Besonderheit die Zeit, das muss man sehr gut denken.« Wir sprechen über die praktischen Details, die das „Timing“ in der Oper ausmachen und tatsächlich lassen sich seine Gedanken hierzu in der nächsten Probe, die ich besuche, gut überprüfen.

Andrei hat ebenfalls mit mehreren seiner bisher rund fünfzig Kompositionen Preise und Auszeichnungen erhalten. Darunter findet sich Instrumentales wie Vokales, Klassisches genauso wie Jazz, auch Elektronische und Filmmusik ist ihm nicht fremd. Warum er denn als Sonderinstrument für seine Besucher-Musik einen E-Bass gewählt habe, frage ich ihn. »Als ich erfuhr, dass dies möglich ist, dachte ich: Wow! Ich habe noch nie für E-Bass außerhalb von Jazz-Musik komponiert. Das ist eine großartige Gelegenheit, die Klänge zu mischen und ich glaube wirklich, dass es passt!« Die Vögel im Bürgerpark zwitschern unbeeindruckt weiter, doch ich freue mich über seine Begeisterung – und teile sie.

                                                                                                                                                                                                                     Jón Philipp von Linden